175-Jahre Belgien (jetzt: 178 Jahre)
Nach dem Scheitern Napoleons (Waterloo, 1815) und der Rückgabe eroberter Gebiete wurde Frankreich wieder von Königen regiert. Als Karl X. das Parlament auflöste, lehnte sich das französische Volk 1830 in der Julirevolution gegen die Willkürherrschaft auf. Wenig später, am 25. August, begann in Brüssel der belgische Aufstand gegen die nord-niederländische Herrschaft. Die Aufständischen - eine Koalition aus Katholiken und Liberalen - vertrieben die Niederländer aus Brüssel, und wehrten erfolgreich den Versuch einer Rückeroberung Belgiens ab.
Am 4. Oktober 1830 proklamierte eine provisorische Regierung die Unabhängigkeit Belgiens. Mit der Wahl Leopold I. aus dem Hause Sachsen-Coburg-Saalfeld zum „König der Belgier" (1821-1865) gab sich Belgien eine liberale Verfassung, die Vorbildcharakter für verschiedene andere liberale Verfassungen in Europa hatte. Am 4. Juni 1831 entstand eine konstitutionelle Monarchie. Die europäischen Großmächte bestätigten am 15. Oktober auf einer Konferenz in London die Unabhängigkeit Belgiens.
Die Niederlande versuchten in den Jahren 1831 bis 1833 Belgien zurückzugewinnen, scheiterten aber an der Intervention Frankreichs. Erst im April 1839 erkannten die Niederlande das unabhängige Belgien an; zugleich wurden im Londoner Protokoll die Grenzen Belgiens festgelegt (Belgien erhielt Teile von Luxemburg und Limburg); außerdem erklärten die Großmächte Belgien für neutral und sich selbst zu Garanten dieser Neutralität.
Während des 1. Weltkrieges marschierten die deutschen Truppen auf Befehl Kaiser Wilhelm II. ohne offizielle Kriegserklärung im neutralen Belgien ein. Im Laufe des vierjährigen Stellungskrieges verloren Millionen von Soldaten ihr Leben, viele Städte in Belgien wurden zerstört. Nach dem 1. Weltkrieg gehörte Belgien aufgrund seines neutralen Status zu den Siegermächten und annektierte das Gebiet um Eupen-Malmedy, heute Ostbelgien, vom Deutschen Reich.
Bis in die Fünfzigerjahre war die französischsprachige Bevölkerung in Wallonien die einflussreichere Volksgruppe in Belgien, was zu großen politischen Spannungen mit der Niederländisch spechenden flämischen Bevölkerung führte.
Trotz der Gewährung regionaler Autonomierechte für Flamen, Wallonen und die deutschsprachige Volksgruppe in Ostbelgien, sowie der Verabschiedung des Gesetzes zur Umwandlung Belgiens in einen Bundesstaat, sind Spannungen und Gegensätze bis heute vorhanden und werden von der flämischen Partei Vlaams Blok (seit 2004 umbenannt in Vlaams Belang) und der wallonischen Partei Front National Belgique politisch ausgetragen. Als einigendes und stabilisierendes Band für das Land erweist sich das Königshaus, dem seit 1993 König Albert II. als Nachfolger von Baudouin I. vorsteht.
Der Föderalstaat wird aus dem König und 15 vom Parlament betrauten Mitgliedern gebildet (Exekutive) sowie dem Bundesparlament (Legislative). Das Parlament besteht aus der Abgeordnetenkammer mit 150 Mitgliedern und dem Senat mit 71 Mitgliedern. Während die Kammer Entscheidungsgewalt in Haushaltsangelegenheiten und der Vertrauensfrage hat, berät und entscheidet der Senat bei Interessenkonflikten zwischen den regionalen Parlamenten. Die föderalen Institutionen sind verantwortlich für Justizwesen, Finanzpolitik, innere Sicherheit, Außenpolitik, Landesverteidigung und soziale Sicherheit.
Nach dem Austritt Frankreichs aus der Nato übernahm Belgien 1967 das Nato-Hauptquartier und das Hauptquartier Europa (Shape). Mit dem Ausbau der Europäischen Gemeinschaft wurde Brüssel neben Luxemburg Sitz europäischer Institutionen. Die Wahl Brüssels zum Sitz der Europäischen Union und zur Verwaltungshauptstadt von inzwischen 490 Millionen Menschen in 27 Mitgliedländern verlangt von den Belgiern enorme Fähigkeit zu improvisieren, da der gewaltige Zustrom von Berufseuropäern und der Bau neuer EU-Institutionen riesige städteplanerische Eingriffe erfordern. So gehört das Verkehrschaos mit Polizisten, die auf Straßenkreuzungen unermüdlich Verkehrsströme entwirren, zum Alltagsbild. Die Hauptstädter geben mit ihrer Toleranz, Lebensfreude, kultureller Vielfalt und Zweisprachigkeit ein gutes Beispiel europäischer Integration. Neben „Manneken Pis“, Pommes Frites, Bier und Pralinen schmunzelt der Besucher aber auch über die Brüsseler Kleinstaaterei mit 19 unabhängigen Gemeinden mit jeweils eigenen Bürgermeistern und Polizeikräften, eigener Feuerwehr, Gas- und Stromversorgung und Müllabfuhr. Brüssel-Fans lieben das Lebensgefühl der nicht überall reibungslos funktionierenden Metropole.